Offene Enden - A fine aperta

Drucken

Offenes Ende, Open Ende

Gottesdienst vom 29. April in der Kirche St. Thomas in Berlin-Kreuzberg

Bilder, Objekte:  FREDA HEYDEN; SUSANNE SCHULZ(Vl), WILLEMSCHULZ (Vc); MANFRED MAIBAUER; (Orgel)

Pfrn. CLAUDIA MIETH ( Lektorin); HARTMUT DIEKMANN (Begrüßung und Predigt)


Begrüßung
Liebe Gemeindeglieder und Gottesdienstbesucher, liebe Gäste.
Ich begrüße Sie ganz herzlich zu diesem Gottesdienst in St. Thomas, und entschuldige mich bei Ihnen, dass es in diesem Gottesdienst auch eine Ausstellungseröffnung gibt mit Arbeiten von Freda Heyden, die hier einiges durcheinanderbringen.  Mir kommt es allerdings sehr gelegen. Wir haben schon häufiger in Kirchen etwas zusammen gemacht:  In Neapel eine Installation mit vielen vom Sturm zerbrochenen Schirmen, und in einer Kirche in Spandau etwas zur heutigen Ausstellung Vergleichbares.
Natürlich kann so ein Sonntagmorgen nicht wie alle übrigen sein.
Darum entschuldige ich mich bei Ihnen als Gottesdienstgemeinde auch dafür, dass Sie nicht in demselben Maße zum Singen kommen, wie Sie es  gewohnt sind. Das liegt an den improvisierenden Streichern Susanne und Willem Schulz, die heute ihre Instrumente singen lassen und daran, dass es heute Morgen  überhaupt anders ist.

Liebe Freunde und Bewunderer der Kunst,  bei Ihnen entschuldige ich mich dafür, dass Sie, um Fredas Hörner, Himmelsleiter und Bilder  sehen zu können, diesen Gottesdienst über sich ergehen lassen müssen. Die Verantwortung dafür übernehme ich, denn ich habe die anderen nervend darauf bestanden, dass beides heute und in derselben Stunde geschehen sollte.
Darum wende ich mich noch einmal an Euch, Freunde und Bewunderer der Kunst und Künste, die Ihr wegen Eurer Bewunderung für die Kunst die Religion hinter Euch gelassen habt, und jetzt mit Unbehagen deren beider Vermischung verfolgt. Ich begrüße Euch in diesem gewaltigen Bau, dessen nackte Wände, das müsst Ihr zugeben,  geradezu danach verlangen, in eine Galerie verwandelt zu werden, und dessen gewaltigen Raum schönere Objekte zu füllen berufen wären als dieser Baldachin, der sich über dem Altar spreizt, und dessen Kreuz auf dem Altar so unverrückbar in der Mitte steht, als ob es darum ginge, uns allen das Sehen auszutreiben und die Hörner zu verdecken.

 

Liebe Freunde und Gemeindeglieder der St. Thomas Gemeinde, die Ihr freundlicher Weise zu diesem Anlass Eure große Kirche zur Verfügung gestellt habt, damit Fredas große Hörner  auch einmal klein erscheinen und die improvisierenden Musiker weite Wege gehen können.  
Eure Kirche ist ja beinahe so groß  wie die Peterskirche in Rom. Für einen Augenblick dürfen wir uns als caput mundi fühlen, als das Haupt der Welt. St. Thomas-Kirche – San Pietro. Mit dieser teilt sie aber nicht nur die Größe, sondern auch  den Wankelmut und die Schwäche deren Namenspatron: Hier der ungläubige Thomas, dem die Anschauung nicht reichte, sondern der seine Hand unbedingt in die Wundmale legen musste – vielleicht hat jemand den Caravaggio vor Augen, dessen Thomas seinen Finger ganz tief und unverschämt in die in Seitenwunde Jesu bohrt - und dort der verleugnende Petrus, in dessen Unglauben sich viele der  nachfolgende Generationen wiederfanden.

Dieser Kirchraum bietet immens viel Raum. Da können die  Kunst und der Glaube mühelos aneinander vorbeikommen, ohne voneinander Notiz zu nehmen. Aber beide können sich auch aus freien Stücken und ohne Zwang treffen.
Für diese freundliche Tat sei der Gemeinde und Ihren Mitwirkenden noch einmal ganz herzlich gedankt.


Als Ihr, Kunstbegeisterte wie Glaubende und Zweifelnde, hier hereinkamt, wurdet ihr alle an der Himmelsleiter vorbeigeführt. Und durftet nicht, und wolltet vielleicht auch gar nicht, auf jeden Fall konntet auch gar nicht hinaufsteigen. Denn dazu seid ihr zu schwer.  Die Himmelsleiter hinauf darf erst, wer ganz leicht geworden ist und die irdische Schwere abgelegt hat. Dazu müssten wir unser Leben auf irgendeine Weise hinter uns gelassen haben. Sei es im Traum – sei es am Ende aller Träume. Damit ist das Thema offene Enden zwar nicht schon erledigt, doch es hat auch seine Grenze.
Dass es einmal so kommen wird, ist ganz gewiß.
Der afrikanische Weise Amadou Hampathé B´à  hat diese Gewißheit auf umwerfend einfache Weise ausgedrückt: „Wer immer diese Welt betritt, wird sie nicht  lebend wieder verlassen.“
Offene Enden finden ihr Ende.
Gerade deshalb kommt es darauf an, das Ende offen zu halten.
Darum geht es der Kunst, und wir sehen, dass der Anspruch hoch ist, und darum geht es im Glauben. Im Endlichen das Ende offen zu halten. Vom Leben mehr verlangen als ein Butterbrot.

Die Musik scheint dabei das beste Teil erwählt zu haben. Sie hat selber so etwas Unendliches an sich, sie hebt uns auf und trägt uns davon, trotz unserer Erdenschwere.  Nicht immer ertragen wir  diese Leichtigkeit, mit der uns die Musik versieht, denn wir haben eine beklagenswerte Trägheit in uns.

Eine Bemerkung möchte ich noch hinzufügen: Sollten sich die Gottesdienstbesucher heute hier nicht so zu Hause fühlen, sie nicht dieselbe Vertrautheit empfinden wie an anderen Sonntagen, dann dürfen sie sich glücklich schätzen. Warum sollen wir uns in der Kirche denn  zu Hause fühlen? Die Kirche ist das Haus Gottes und wir sind seine Gäste. Und wenn ein Gastgeber sagt, fühlt euch wie zu Hause, denn sagt er das, weil er weiß, dass wir ja eigentlich dort nicht zu Hause sind. Sich fremd in der eigenen Kirche fühlen, darin kann sich auch die Gnade Gottes verbergen.
Und sollten sich die Freunde der Kunst und Künste heute von diesem Raum, dieser Liturgie, den Gebeten und dem Gemeindegesang, und womöglich noch von  meiner Predigt in ihrem Genießen der Kunst gestört fühlen, dann sollten sie dies durchaus für einen Glücksfall halten. Denn die Kunst gehört euch nicht, sie ist nicht eure, sie trägt etwas Unendliches in sich, das nicht genossen werden kann.


Predigt  Der Sämann (Ev. Matthäus 13, 1-19)
Der Friede Gottes sei mit Euch allen

Liebe Gemeinde,
Wir wenden uns jetzt den offenen Enden zu. Ob es überhaupt angemessen ist, Euch zusammen gewürfelte Schar mit Liebe Gemeinde anzusprechen –ich weiß es nicht genau. Ich lasse es für den Moment offen.
Jetzt  sind ersteinmal die offenen Enden dran.
Richtet Eure Blicke einmal durchs Kreuz und ums Kreuz herum auf die beiden Hörner in der Apsis.
Ganz deutlich sichtbar haben die beiden Hörner vorn offene Enden, und die Himmelsleiter in unserem Rücken ebenfalls. Eingänge und Zugänge zur himmlischen Dimension.
Wir hatten uns einmal ausgerechnet, die Hörner würden hier am Pfingstfest zum ersten Mal gezeigt. Dann hätte Freda sie vielleicht rechts und links neben dem Altar aufgerichtet und ich hätte Worte aus dem 118. Psalm vorgelesen: Der Herr ist Gott, der uns erleuchtet. Schmücket das Fest mit Maien bis an die Hörner des Altars. Aus dem Maiengrün würden dann rechts und links die Hörner emporwachsen.

Aus verschiedenen Gründen ist uns das nicht gelungen. Stattdessen hängen die Hörner jetzt hinter dem Altar mit seinem mächtigen, wenn schon nicht eisernen, so doch metallischen Kreuz. So sieht man die Hörner selten in ihrer ganzen Größe, eher verstellt und wie nicht vollendet.
Vielleicht hat Freda ihre Installation deshalb Offene Enden genannt, um auf das Vorläufige und nicht Vollendete  hinzuweisen, vielleicht auch um uns unseren abwegigen Phantasien freien Lauf zu lassen
Auf der Einladungskarte sieht das Horn aus wie ein westfälischer Schinken, auf den Stäben in der Apsis ruhend wie das Maul des Moby Dick  oder wie eine Posaune, für die der geeigneter Bläser bisher noch nicht geboren worden ist. Mal werden sie gefressen, mal fressen sie selber, mal warten sie auf ihren eigenen, himmlischen Auftritt.

Das hintere Horn knickt irgendwie nach vorne ein, als ob es verzweifle, dass der Meister-Spieler noch nicht gefunden sei,  kann es sein, dass die Werke sich nicht damit abfinden wollen, dass die Enden offen sind, dass sie leiden – und nicht wir.

Aber vielleicht reden sie nur miteinander, auf jeden Fall sind sie zu zweit. Wie in diesem Gottesdienst überhaupt fast alles doppelt ist. Zwei Bilder hängen einander gegenüber, leihen sich gegenseitig ihre Namen – zweimal einhalb, die Musiker sind zu zweit, manchmal noch mehr. Bei Freda sind es immer zwei, gespiegelt, concav-convex, hoch relief oder basrelief, aber immer in dieser bestimmten Distanz zueinander. Baudrillart bemerkte das Erscheinen der Doppeltürme, statt des einen Wolkenkratzers. Es beschrieb das Phänomen am World Trade Center, wie in ihm der Kampf um die alleinige Höhe einer Kommunikation auf Distanz gewichen sei. Wolkenkratzer berühren sich nicht, sagt Louise Bourgeois in ihren Aphorismen, denen Freda folgt. Sie haben diese nahe Distanz zu einander, sie hüten ihre Geheimnisse durch  Verdoppelungen. Gerade Verdoppelungen sind offene Enden, die es sich nur nicht anmerken lassen. Und wir sind auch froh darüber.

Offene Enden sind uns nämlich egal. Leider.  Seit Schubert lieben wir sie, lieben wir alles Unvollendete, wir publizieren aus aufgegebenen Werken, Romane, die ein Ende haben, sind uns ein Gräuel .Wir schwelgen in der Wahrheit,  der Weg  sei das Ziel. Wir fürchten uns vorm Ankommen. Alle Tatorte im Fernsehen sind Schnitzeljagden, so lange sie laufen, an das Ende, das sind dann bieten, glaubt  sowieso niemand mehr.

Für diesen Zusammenhang bildet sich gerade ein neuer Begriff heraus: zielführend. Meistens in der Verneinung als nicht zielführend, fast immer in der Bedeutung von zweckmäßig, denn ans  Ziel wollen wir sowieso nicht kommen.
Es klingt nach Don Juan, dem Verführer, der nicht aufhören kann zu verführen,  der auch gar kein Ziel kennt, 1003 in Spanien, ungerade Zahl, muss noch eine drauf, aber unser Der Weg ist das Ziel kommt ganz ohne dessen Leidenschaft aus, ohne seine Erotik, ohne sein Gewinnen- und Besiegenkönnen – sondern unser Der Weg ist das Ziel ist nur als ein Weiterwurschteln veranstaltet,  um nur nicht Rechenschaft geben, Bilanz  ziehen zu müssen.

Unser Alltag erscheint daher wie eine romantische Unendlichkeit aber ohne Romantik. Ich meine  jene Figuren der Romantik,  die nie zur Erfüllung kommen, weder Don Juan, noch der romantische Nachtwächter, der jedes Mal vor Mitternacht das Messer hebt, um es sich ins Herz zu stoßen. Doch dann schlägt die volle Stunde und seine Hand bleibt erstarrt in der Luft und er kann sich den Tod nicht geben. Nun wartet er bis zur nächsten Nacht, und dann wieder zur nächsten – seine Reihe offener Enden. Am Parodistischen erscheint diese Idee bei Jean Paul, der seinen Held in einen Brunnen pinkeln lässt, um es dann die ganze Nacht rauschen zu hören in der Meinung, das sei immer noch  er.

Hegel nannte das „Schlechte Unendlichkeit“, nämlich  ein ewiges Sollenmüssen.

Und dennoch steckt im Offenen ein ganz großer Segen. Wenn nämlich das Offene das Ziel nicht ersetzt sondern im Auge behält.

Dazu müssen wir zurück zum Sämann, von dem wir vorhin gehört haben. Mir ist der Typ vollkommen rätselhaft, unheimlich – obgleich alles so normal aussieht.
Ich weiß nicht, ist er unsicher, unfähig, großzügig, vergeudend, ein Nichtskönner oder Besserwisser? Was bedeutet es, dass er so wild mit den Körnern um sich wirft? Hat er kein Sparkonzept, gibt es keine Arbeitskontrolle?

Eines aber würde ich nie machen: Ich könnte ihn nie Landarbeiter nennen. Von der Tätigkeit, die wir über alles lieben, hat er so gar nichts: er ist kein Arbeiter und er arbeitet nicht. Und gerade deshalb verstehen wir ihn so schlecht in seiner Tätigkeit.
Er steht unter uns fremd dar und dumm zugleich, denn hier stößt er gegen einen Punkt, in dem und an dem wir einmal alle einig sind: Künstler oder Kirchler: Wir meinen nämlich, wir wären alle Arbeiter. Geistige oder körperliche Arbeiter. Hand- und Kopfarbeiter.
Es ist ein Desaster, das sich überall eingenistet habt, und da wir sowenig Notiz voneinander nehmen, hat der Künstler keine Ahnung, was in der Kirche los ist, und umgekehrt genauso wenig..

Erst einmal Kirche.

Wir in der Kirche sind Spitze was das Konzept des Arbeitens betrifft. In der Kirche gelten mehr Tätigkeitsfelder als Arbeit denn in irgend einer anderen gesellschaftlichen Gruppe: Bei uns gibt es Seniorenarbeit, Frauenarbeit, Mütterarbeit, Jugendarbeit, Freizeitarbeit,  Konfirmandenarbeit, Kinderarbeit – nur noch in der Kirche erlaubt, sonst verboten - Gottesdienstarbeit, Bibelarbeit, Freizeitarbeit, bestimmt auch noch Gebetsarbeit – ihr versteht schon, bei uns wird immer nur gearbeitet, um nicht zu einem Ziel kommen zu müssen. Um es kurz zu machen, denn es quält: Es ist ein Ausdruck frommen Weiterwurschtelns. Kein Ziel – nur arbeiten – offene Enden.

Wie es um die Künstler und ihre Tätigkeiten bestellt ist, überlasse ich lieber den Nachforschungen der Künstler selber. Ich weiß nicht, ob die Vorstellungen von Malerarbeitern und Schreibarbeitern bereits aus dem Handwerklichen ins Künstlerische übergewechselt sind. Aber den Kunstarbeiter gibt es schon. Den begriff habe ich schon gelesen. Dieser schafft inzwischen nur noch selten Werke, meistens sind es Arbeiten. Arbeiten auf Papier, Arbeiten auf Leinwand. Weil ein Werk ist ein geschlossene Ende, Arbeiten kann man unendlich fortsetzen, man muss sie nur ordentlich nummerieren.

In Katalogen findet sich zudem fast unter jeder künstlerischen Biographie:  lebt und arbeitet in Paris, Barcelona, Osnabrück. Immer schießt es mir durch den Kopf: was ist das für eine schäbige Art, Lebenswelt und künstlerische Welt voneinander zu trennen. Es klingt nach Angestelltendasein: der Künstler lässt nach 17 Uhr den Pinsel fallen, weil nun das Leben beginnt. Und ich denke: Hier hat die Arbeit längst gesiegt.

Nur der Sämann ist noch von der alten Schule. Ihm geht es nicht ausschließlich darum zu säen, sondern er will auch Ergebnisse, er will etwas sehen, er will zum Schluss ernten. Dafür nimmt er allerhand in Kauf. Vielleicht liegt es daran, dass dieser Sämann alles in allem ist.
Er ist Gott, der sein Wort unter die Menschen wirft.
Er ist der Priester, der Prediger, der Prophet, der ihm dabei hilft.
Es ist der Künstler, der eine Idee in eine Fülle verschiedener Materialien gießt. Er ist dabei ein ebenso großer Vergeuder wie Gott, und die Propheten, wie ein Schriftsteller, wie alle diejenigen, die nicht zögern, ihre Perlen auch vor die Säue zu werfen, weil ihnen zur Verwirklichung ihres Anliegens buchstäblich nichts zu teuer ist.

Was schert den Sämann der Fels, die Dornen, der Weg. Sie alle werden mitbedacht, ihnen allen wird vorgelegt, sie alle werden gesegnet, denn wenn sich in der Dürre auch nur eine einzige Stelle findet, die die Frucht reifen lässt, dann ist ja schon alles gewonnen.
Es wäre ein Witz, wollten wir sagen, für den Sämann ist der Weg das Ziel. Er  stört sich am Weg nicht, sondern behält  über Felsen, Dornen und Weg das wogende Feld im Auge.
Das offene Ende kann unendlich weit weg sein, die Mühen sich bis ins Unendliche ausdehnen, aber dies lässt die Enden nicht verschwinden.

Ich erinnere an Gustav Flaubert, der Seiten in seinen Romanen umgeschrieben hat, weil er ein Komma versetzen musste. Flaubert ging absurd weite Wege, aber er hatte unendlich viel mehr vor Augen als nur den Weg. Er war ein ähnlicher  Vergeuder wie der Sämann, der viel verschleuderte um noch mehr zu erreichen. Das Säen ist eine Tätigkeit, die lässt sich nicht rationalisieren. Das Säen wie die Kunst  lebt aus der Fülle, die es nicht hat  Ich sollte vielleicht sagen, beide leben aus der Gnade, die sie nicht haben. Ich könnte auch sagen, beide haben wie die Himmelsleiter ein Ziel, das zwar nicht erreichbar, aber doch da ist. Oder beide sind wie die Hörner, von deren Tönen wir nichts vernehmen, die aber doch ganz unerhört mächtig wären, wenn der Meister zu spielen begönne.
Amen