Bildpredigten

Karfreitagspredigt St.Thomas

Die Gemeinde St.Thomas (Mariannenplatz - Berlin Kreuzberg) und der Maler Albert Maria Pümpel laden ein zum

Karfreitag , 2.April 15.00 Uhr      Gottesdienst zur Sterbestunde Jesu
Musik von
MichaelHaydn; Palestrina; Bruckner; H.Schütz
Musikalische Leitung        Manfred Maibauer
Malerei
Albert Maria Pümpel – Stabat Mater; Triptychon
Öl, Ei, Schellack auf Leinwand
3x 200 x 150 cm
www.albertpuempel.de Triptychen 252-1996 Stabat mater
Predigt
die Kreuzigung Jesu und das Stabat Mater
Pfarrer Hartmut Diekmann, Berlin-Spandau

Karfreitag ist der letzte Tag, an dem sich Gott unseren Augen ganz menschlich zeigt: als leidender und sterbender Christus. Ihm haben sich die Künstler durch die Jahrhunderte zugewandt, um dem Geheimnis dieses Sterbens zu begegnen.
In diesem Gottesdienst wird die Musik sehr präsent sein, von der man allerdings sagt, sie trüge uns davon.
Aber: „O große Not, Gott selbst ist tot!“ sang früher die evangelische Gemeinde, bis ihr dieser Ausruf selbst unheimlich wurde, weil sie ins Bodenlose sank. Die Strophe  wurde neu gefasst. (EG 80,2)
Die Malerei hingegen hält uns am Ort.
Albert Maria Pümpel  hat die Szene der Kreuzigung gemalt, als ob er einer der Zeugen gewesen wäre. Einer von jenen, die alles gesehen haben  und doch nicht zum Herren der Geschichte wurden.
Bei den Schächern rechts und links von Jesus glaubt man das Verbrechen ebenso zu sehen an wie eine Engelähnlichkeit.  Im Mittelteil ist die Mutter Gottes  mit ihrem Sohn so innig verbunden, als wäre jeder auch zugleich die andere und diese jener.
Wir folgen dem Triptychon des Malers Albert Maria Pümpel in jenen  Raum führen, in dem die Antwort des Glauben  die Frage nach dem Leben und Sterben ist.

Einführung und Ansprache

Einleitung

Seit einiger Zeit versuchen wir als Kirchen  es erneut mit  der Kunst. Wir zeigen Bilder, laden zu  Ausstellungen ein, geben Konzerte oder öffnen wenigstens dazu unsere Kirchen. Die Absicht scheint ebenso einleuchtend wie durchsichtig: Kulturveranstaltungen gehen gut, Kirchen nicht so gut. Warum soll man  nicht auch die Kirchen für die Kultur öffnen. Es gibt so schöne, große, leere weiträumige Hallen, die nur darauf warten, mit Leben gefüllt zu werden.
Aber so eine Einladung hat ihre Schwierigkeiten. Viele Künstler lehnen ab.  Sie sagen oder meinen: Nachdem ich mir meine Freiheit und Autonomie erstritten habe, werde ich doch nicht wieder zum Diener der Kirche - und ziehen die Galerie oder das Museum vor. Denn da müssen sie weder der Zeit noch dem Raum dienen. Eine Vielzahl von Sälen schützt die eigenen Bilder vor der Konkurrenz der Bilder anderer Maler und die Zeit spielt gar keine Rolle: Caravaggio ist immer gut, man kann ihn im Sommer wie im Winter anschauen, für ihn wie für alle anderen großen und kleinen Maler ist  immer die richtige Zeit.
Aber so ist es bei uns heute gerade nicht. Auch wenn Gesang ertönt und Bilder gezeigt werden: die Thomaskirche verwandelt sich dadurch weder in eine Galerie noch in einen Konzertsaal.  Denn was wir  hören und  sehen werden,  hat seine bestimmte Zeit, und die ist der Karfreitag. An welchem anderen Ort kann man daher diese Malerei, das Stabat Mater, die unter dem Kreuz stehende Mutter Jesu, Maria, angemessener sehen als in einer Kirche. Und an welchem Ort können wir die Musik des Kyrie, des  Agnus Dei, das Lamm Gottes, besser hören als in der Kirche. Dazu hören wir ein Gedicht aus den Kindertotenliedern von Friedrich Rückert, sein Stabat Pater um den Tod zweier Kinder, und den Bericht einer jungen Frau, der es nicht gelingen wollte, mit ihrem Geliebten zu sterben, obgleich sie sich nichts sehnlicher gewünscht hatte . so wie Karl Kraus es in seiner Fackel aufbewahrt hat
Warum der Karfreitag bei uns Protestanten zum höchsten Feiertag des Kirchenjahres aufgestiegen ist, versteht sich nicht von selbst. Ist es so, weil wir so eine große Nähe zum Tod verspüren? Joseph Goebbels, der gerne Trauerreden hielt, wusste dazu zu sagen: „Man wirft uns Deutschen vor, wir verstünden nicht zu leben. Das mag schon sein. Aber zu sterben verstehen wir fabelhaft.“  Ist es christlich oder nur das Zeichen einer gelungenen  Germanisierung des Christentums, die sich in der Hochschätzung des Karfreitags ausdrückt? Katholisch ist sie wenigstens nicht.
Aber nicht wir sterben heute, sondern Jesus stirbt an unserer Stelle, damit wir leben können. Das ist dieses so schwer zu begehende Freuden-Trauer-Fest, dessen Kern im Johannes Evangelium in aller Konsequenz entfaltet wird. In Jesus wird das Wort Fleisch. Nimmt menschliche Gestalt an. In unserer Mitte lässt es sich hören. Und stirbt am Kreuz am heutigen Karfreitag.
An diesem Tag verstummt das Wort. Das ist eine Botschaft, die wir nicht feiern können, denn es ist, als ob die Erde ein zweites Mal wüst und leer würde, genauso, wie sie vor dem ersten Schöpfungstage war. Vor dem ersten „und Gott sprach und es wurde.“Darum ist der Karfreitag der eigentliche Tag der bildenden Kunst und der Musik, der Tag des gekreuzigten Wortes. Das Kirchenlied O Traurigkeit, o Herzeleid hat diese Botschaft einmal mit der darin  enthaltenen Verzweiflung ausdrücken wollen. Denn in  der ursprünglichen zweiten Strophe sang die Gemeinde: O große Not, Gott selbst ist tot. Nun heißt es: O große Not, Gotts Sohn ist tot. Wir singen das Lied  mit seiner ursprünglichen zweiten Strophe.


Predigt I
Die katholischen Länder feiern auch den Karfreitag, aber als Drama, als Kreuzigung vor Augen.
Am deutlichsten erinnere ich mich an die Karfreitagsprozession in Licata, an der Südküste Siziliens: Auf einem Meer von 20 oder 30000 Gläubigen schwamm wie ein Floß ein Podest, das von vielen starken Männern gehalten wurde. Darauf sah man Jesus, die beiden mit ihm gekreuzigten Schächer, Johannes, den Lieblingsjünger, einige Frauen, darunter auch Maria, die Mutter Jesu. Zu einer unendlich traurigen Musik schwankte dieses Floß mit seinen Personen indem es sich langsam  einem mit drei Kreuzen versehenen Golgatha entgegen: Diese lang hin gezogene Musik, die mitgesungen wurde, das bedenklich schwankende Floß, das immer so aussah, als wollte es in den Wogen der Menge versinken – es war kaum zu ertragen. Aber für den, der mitten in der Menge steckte, gab es kein Entrinnen. Lautes Stöhnen durchlief die Menge, die hörbar mehr als nur Zuschauer waren.
Ein erlebter, gefühlter Karfreitag, gewaltsam, nahe an einer Vergewaltigung,  geradezu heidnisch in seiner irdischen Gegenwärtigkeit und Zudringlichkeit.
Und zugleich der heiße Unterschied zu dem protestantischen Karfreitag. Wir haben allem Theatralischen an diesem Tage abgeschworen. Unser Karfreitag ist unblutig, mit dem Alaunstein der Theologie gestillt, die Szenerie der Schädelstätte gereinigt  - und der Blick geht frei auf Ostern. Am Karfreitag predigen wir den Auferstandenen. „Lasst Euch versöhnen mit Gott“ heißt es in dem Predigttext für heute, also predigt die Kirche an diesem Tag die Versöhnung „Auch wenn die Zeit der Passion den Blick auf das Kreuz wendet, schaun’ wir ja doch selbst an Karfreitag mit dem Wissen um die Auferstehung auf das Holz des Todes.“
Aus einer Passionspredigt. Zum Beispiel.
Und nichts Ungewöhnliches. Der Christ denkt natürlich immer  von Ostern her: Mit dem Blick voraus auf den österliche  Blick zurück.  Der sagt:  Alles-ist-gut-gegangen. War doch nicht so schlimm. Es sah aus wie Weltuntergang, dazu ist es dann aber doch nicht gekommen. Ehe das Kreuz aufgerichtet ist, legen wir es bereits nieder. Die Erfahrung des Schmerzes und der Niederlage überstrahlt das Licht der Auferstehung.
Aber darin liegt auch diese Verführung: Wir sind immer bei der Lösung, nie bei der Aufgabe. Wir sind  immer von der  Erfüllung getragen, aber den Schmerz unerfüllter Verheißung umgehen wir.
Oder einfacher gesagt: als Christen machen wir zu wenig Erfahrung. Das tut nicht weh, aber gerade das ist das Problem.
Denn Erfahrung machen hat immer etwas Schmerzliches. Weil Erfahrung kommt, wenn wir erkennen, dass es sich mit einem Ding, mit einem Menschen, mit der Welt ganz anders verhält als wir gedacht hatten. Wir fallen aus allen Wolken, werden enttäuscht, werden geschlagen, ohne zu wissen, woher die Schläge kommen. Wenn es ganz hart kommt, wissen wir nicht mehr woran wir sind und wer wir sind. So  muss es den Jüngern Jesu gegangen sein, als er nicht vom Kreuz abstieg.
Um Weihnachten des  Jahres 1833 erkrankten alle Kinder Friedrich Rückerts an Scharlach. Zwei von ihnen, die anmutige dreijährige Luise und der vierjährige Ernst erlagen der Krankheit. Eine von den Erfahrungen, die niemand machen möchte. Die auch Rückert nun weiß Gott nicht hatte machen wollen. Nichts war gut am Tod seiner beiden Kinder.  Wäre es ihm möglich gewesen, er hätte sein Leben gegeben, um das der Kinder zu retten. Aber niemand verlangte ihm diese Gabe ab. Rückert blieb aber nicht stumm im Elend. Elend macht stumm, nicht nur den, der betroffen ist, noch mehr diejenigen, die es mit ansehen müssen. Niemand ist einsamer als der von einem Schicksalsschlag getroffene. Der Nachbar meidet ihn, geht ihm aus dem Wege. So wird das Elend vollkommen.
Aber. Rückert war ein Künstler, ein Dichter.  Er machte diese Erfahrung des Abgrunds zu seiner eigenen und rang sich Worte ab, um diese Erfahrung auszudrücken.  Einige Kindertotenlieder sind durch die Vertonung Gustav Mahlers gegenwärtig geblieben. Aber es sind mehr als  hundert Gedichte,  in denen er den Tod der Kinder beklagt und besungen hat:. Wunderschöne, ergreifende, erschütternde Gedichte, sein Stabat Pater, das den, der sie liest, teilnehmen lässt  an seinem Schicksal. Er hat sich der Erschütterung mit dem Mittel gestellt, das ja zugleich sein Lebenszweck  und Lebensmittel war: die Sprache. Mit ihr kannte er sich am besten aus. Sie war ihm am teuersten. Es ging ihm um Wahrhaftigkeit, nicht um öffentliche Wirkung. Die mochte er ganz und gar nicht.
Er hatte eine Professur, zitterte jedoch zu Beginn eines jeden Semesters, es möchten sich mehr als drei Studenten in seine Vorlesungen einschreiben, und er wäre so gezwungen, sie auch wirklich zu halten. Er war ein Mensch, von dem man fürchten konnte, der Tod seiner Kinder würde ihn zu Boden werfen.  Er stürzte aber stand wieder auf.
Ohne seine Kindertotenlieder wüssten wir nichts von seinem Leid, und nichts von seiner Größe. Müssen wir da nicht sagen, dass ohne den Tod der beiden Kinder nicht sowohl er als auch wir sehr viel ärmer geblieben wären? Haben wir nicht großen gewinn an dem Elend, dem sich der andere stellt?
Jetzt denke niemand, der Pfarrer hat in seiner Ansprache tote Kinder gegen Gedichte aufgerechnet. Ich sage auch nicht, wegen der Gedichte war es gut, dass die Kinder gestorben sind. Ich will aber darauf bestehen, dass der Verlust der Kinder, der Schmerz, dem Rückert nicht ausgewichen ist, uns zu großem Reichtum verholfen hat. Und auch ihn hat der Tod der Kinder verändert. Er wusste anschließend Dinge über sich, die er vorher nicht gewusst hat.
Ich erinnere damit auch an das, was wir soeben von Andrej Tarkowskij gehört haben. Albert Maria Pümpel hatte darum gebeten, aus einem Kapitel seiner  versiegelten Zeit, so der Titel des Buches, zu lesen. Das Kapitel ist überschrieben : Die Kunst als Sehnsucht nach dem Idealen. Tarkowskijs schüttelt darin unwillig den Kopf über die Behauptung, ein Künstler schaffe aus Gründen der Selbstverwirklichung. Oft von Künstlern selber vorgebracht. Im Falle Rückerts verstehen wir das sofort. Und auch, dass er um der Idee der Liebe willen dichtet. „Unerlässliche Bedingungen für den Kampf des Künstlers um eine eigene Kunst sind der Glaube an sich selbst, die Bereitschaft zu dienen und die Kompromisslosigkeit.“ Soweit Tarkowskij.
Als ich mit Blick auf diesen Gottesdienst mich mit Albert Maria Pümpel in seinem Atelier verabredet hatte, ich glaube es war ein früher Nachmittag, machte er mir etwas zerzaust die Tür auf. Nach wenigen Minuten deutete er an, er habe die ganze Nacht gemalt und sei jetzt nicht ganz frisch. An einer Wand des Ateliers sah ich  einen gewaltig gemalten Fisch, mit dem er noch beschäftigt war. Daneben auf einer Staffelei stand ein Portrait, das auch gerade unter seinen Händen heranwuchs.
„Der Künstler ist ein Diener, der sozusagen seinen Zoll für die Gabe entrichten muss, die ihm wie durch ein Wunder verliehen wurde. Der moderne Mensch will sich nicht opfern, obwohl wahre Individualität doch nur durch Opfer erreicht werden kann.“ Das ist nicht nur dahin gesagt. Ein Besuch im Atelier kann einem die Augen öffnen. Der hoch betagte Maler, der sein Atelier in einem Dorf eingerichtet hat, indem nun noch das Licht brennt, wenn schon alle anderen schlafen gegangen sind. Auch der Künstler kann eine Art von Stellvertreter sein.
Ich mache hier eine Pause, die ich Sie zu nutzen bitte, sich dieses dreifach Gemälde hinter dem Altar anzuschauen, vielleicht auch noch den Rundgang am Kreuzweg entlang anzuschließen. Behalten Sie dabei gegenwärtig, dass Christus selbst Diener und Opfer war, und ganz sicher nicht aus Gründen der Selbstverwirklichung sich hat  ans Kreuz schlagen lassen. Manfred Maibauer wird auf der Orgel ein Stück von Olvier Messiaen intonieren und danach liest Simone Kabst  von Karl Kraus Dersertion in den Tod. Und ich wende mich dem Stabat Mater zu.


Predigt II
Die Kreuzigungsgruppe ist ein geweihtes Motiv. Grünewald hat es unübertrefflich gemalt. Warum muss jeder Maler seine eigene Kreuzigungsgruppe malen, statt einfach das Unübertreffliche zu wiederholen? Nun heute macht es nicht mehr jeder Maler, aber wer sie malt, wiill Grünewald nicht wiederholen
Albert Maria Pümpel hat es ganz offensichtlich nicht getan. Er hat sich nicht einmal Mühe gegeben, seine Kreuzigung auch nur von Ferne so wirken zu lassen.
Zudem malt er ein Triptychon. Ein drei-Tafel-bild. Davon hat er schon über zwanzig gemalt. Er mag ganz offensichtlich diese Form, So waren einmal die großen Flügelaltäre. Mit einer grauen Schauseite, und wenn sich diese entfaltete, konnte die Gemeinde einen Blick in das heilige Mysterium werfen. Jeden Sonntag, oder gar nur an Hohen Festtagen. So ist es auch jetzt. Morgen ist dieses Stabat Mater schon nicht mehr zu sehen.
Im vergangenen Jahr überraschten die Stuttgarter mit einer Ausstellung zum Triptychon. Überraschend einmal, weil bisher noch kein Museum darauf gekommen war, diesen Typus zum Thema zu machen. Zum anderen, weil es so überraschend viele moderne Maler gibt, die sich dem Triptychon zugewandt haben: Max Beckmanns Argonauten, Francis Bacon Three Studies of the Male Back oder Otto Dix Kriegstriptychon
250 Jahre malte kaum einer so, nun kommen die Triptychen wieder, Das Religiöse findet in der modernen Malerei eine offene Tür. ‚Altäre ohne Gott’ hat jemand diese Dreierbilder genannt, Pathosformal nannte sie Aby Warburg, weil die große Geste der Tradition der Moderne dienstbar gemacht wird.
Was kann ein Triptychon mehr als das einzelne Bild oder ein Diptychon? In einem Bild muss Haupt und Nebensache, Vordergrund und Hintergrund im selben Rahmen komponiert und organisiert werden. Bei einem Doppelbild bildet die Mitte ein Spalt, eine Vertiefung, eine Leerstelle, ein Zwischenraum, der die beiden Bilder zugleich verbindet und trennt.
Erst das Triptychon hat eine natürliche Mitte und ihr untergeordnete Seitenteile. Es ist eine autoritäre Bildform, die sagt ebenso viel aus über das Autonomiestreben des Künstlers wie die Erhabenheit seiner Malerei.
Zwei Gewichte treffen damit aufeinander: Die Teilhabe an der Weihe, dem Ausgewiesenen, dem Erhabenen – und die Wahrhaftigkeit der Darstellung. Keine Widerholung dessen, was man schon gesehen hat, keine Schlossrekonstruktion auf der Leinwand, sondern ein Erstling nach der Zeit.
Was haben Sie gesehen, was sehen wir: In der Mitte der drei Tafeln sehen wir wiederum eine Mitte, die schwarz ist,  und  kein Kreuz. Auf den beiden Tafeln, die den Schächern vorbehalten sind, auch keine Kreuze. Statt dessen sehen wir quellende Farben, blühende Farben, die uns verleiten wollen, sie zu Gestalten zu formen. Die Mitte sähe ich am liebsten als die Form eines Schlüsselloches. Aber der Maler verfolgt ein anderes Bild, und das Bild verfolgt ihn: das der symmetrischen Spielkarte, bei der sich das obere im Unten spiegelt und umgekehrt. Nicht so penetrant identisch-symmetrisch wie bei einer Kreuzdame, sondern hinüberspielend aus dem Ungefähren ins Ungefähre. Das Blauschwarz des Jesushauptes und des Kopfes der Mutter Maria macht aus ihnen weniger eine reale denn eine geahnte Einheit: Um beide ist der Nimbus wie ein helles Tuch gelegt, oder eher zwei helle Tücher. Der Menschwerdung Gottes entspricht auch eine Gottwerdung des Menschen. Nicht streng wie bei einer Spielkarte, die mit der Symmetrie ja auch gar nicht spielt, sondern damit frevelhafter Weise ernst macht. Es ist ein Wechseln in den Anderen, bei dem nicht alles mitkommt, nicht alles hinüberreift. Als ob die Offenbarung Gottes in diese Welt  doch noch ein Geheimnis verborgen hielte, weil Offenbarung, re-velatio – ja im Grunde eine Wiederverhüllung ist. So scheu kann sich dem Geheimnis der Menschwerdung Gottes wohl auch nur ein Maler nähern, oder ein Dichter. Wir alle anderen bewegen uns auf dem Niveau von Spielkarten – Doppelte Axialsymmetrie, wie eine Rechenaufgabe gelöst A=B.
Das Geheimnis wiederholt sich auf den Tafeln zu beiden Seiten. Die Schächer am Kreuz. Schon Golgatha selbst war ein Triptychon, wobei Jesus die unbekannte schwarze Mitte einnahm. Hier nun ahnen wir anderes als wir sehen. Farbige Wolken quellen hervor und sorgen für Leichtigkeit und Schwere. Wir erkennen wohl Hinwendung und Abwendung, aber den Figuren fehlt ihre Identität als Verbrecher. Sie tragen zwar dunkle Farben, die den Tod umgeben, aber es hebt sie auch etwas empor, das aussieht wie Flügelfedern, so dass sie wie stürzend und fliegend zugleich wirken.
Auch noch der letzte Räuber trägt ein Geheimnis, denn er gehört zu  Schöpfung, aus der er nie fallen kann. Das teilt uns der Gott des Karfreitags mit, dessen Höllensturz  unser ganzer Trost und Wonne ist. Amen


Friedrich Rückert  Aus  Kindertotenlied


Ich hatte dich lieb, mein Töchterlein!
Und nun ich dich habe begraben,
Mach' ich mir Vorwürf', ich hätte fein
Noch lieber dich können haben.


Ich habe dich lieber, viel lieber gehabt,
Als ich dirs mochte zeigen;
Zu selten mit Liebeszeichen begabt
Hat dich mein ernstes Schweigen.


Ich habe dich lieb gehabt, so lieb,
Auch wenn ich dich streng gescholten;
Was ich von Liebe dir schuldig blieb,
Sei zwiefach dir jetzt vergolten!


Zu oft verbarg sich hinter der Zucht
Die Vaterlieb' im Gemüthe;
Ich hatte schon im Auge die Frucht,
Anstatt mich zu freun an der Blüte.


O hätt' ich gewußt, wie bald der Wind
Die Blüt' entblättern sollte!
Thun hätt' ich sollen meinem Kind,
Was alles sein Herzchen wollte.


Da solltest du, was ich wollte, thun,
Und thatst es auf meine Winke.
Du trankst das Bittre, wie reut michs nun,
Weil ich dir sagte: trinke!


Dein Mund, geschlossen von Todeskrampf,
Hat meinem Gebot sich erschlossen;
Ach! nur zu verlängern den Todeskampf,
Hat man dirs eingegossen.


Du aber hast, vom Tod umstrickt,
Noch deinem Vater geschmeichelt,
Mit brechenden Augen ihn angeblickt,
Mit sterbenden Händchen gestreichelt.


Was hat mir gesagt die streichelnde Hand,
Da schon die Rede dir fehlte?
Daß du verziehest den Unverstand,
Der dich gutmeinend quälte.


Nun bitt' ich dir ab jedes harte Wort,
Die Worte, die dich bedräuten,
Du wirst sie haben vergessen dort
Oder weißt sie zu deuten.

Emily Dickinson

Die Welt ist nicht der Schluß.
Weil drüben etwas wohnt
Unsichtbar, wie Musik -
So wirklich, wie ein Ton -
Das winkt und nasführt uns -
Philosophie, weiß nichts -
Und durch ein Rätsel muss hindurch
Am Ende – auch der Witz -
Es raten, macht gelehrte wirr -
Es zu ergreifen, trug
So mancher der Geschlechter Hohn
Das Mal der Kreuzigung -
Der Glaube rutscht – lacht, sammelt sich -
Wird rot, wenns einer sah -
Zupft an dem Zweig der Evidenz -
Geht nach der Wetterfahn -
Gefuchtel, von der Kanzel -
Macht Hallelujas stark -
Kein Opium bringt den Zahn zur Ruh
Der an der Seele nagt -

 

 

kanzel hell

Über teofilo.de

Theophil war der Vorname meines Vaters. Mein Vater wurde ein paar Monate vor meiner Geburt aus Russland als vermisst gemeldet. Durch meinen langen Aufenthalt in Italien hat sich der Name Theophil um ein erstes "h" und sein "ph", das zu "f" geronnen ist, verschlankt. Ich selber nicht.

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