Ich könnte das Virus treten. Es hat mir nicht nur eine, es hat mir mehrere und noch dazu so schöne Touren vermasselt. In Berlin und anderswo.
Dabei habe ich gar nichts gegen Zuhausebleiben.
Das Haus ist geräumig, unaufgeräumt und verteilt seit Monaten, zusammen mit dem Garten, viele unerfüllte Aufgaben.
Das wäre sozusagen meine Rache am Virus. Das zum Teil schon dadurch bestraft ist, dass alle Welt ihn es nennen. Klingt zwar männlich, ist aber ein Kind - ziemlich ungezogen und richtet enormen Schaden an.
In meinem Fall kann ich das nachweisen. Befallen bin ich nicht, wenigstens sehe ich (noch) nicht, wie meine Erkältung in eine Coronavirus-Infektion umschlägt. Aber alle wundervollen Vorhaben der nächsten Wochen sind infiziert und in Quarantäne gesteckt. Es geht der Kultur ans Leben.
Ich beginne meine Traueranzeigen mit dem
29. März - dem Konzert des Hebräischen Chores Berlin in der Sophienkirche.
Wir dürften niemanden dazu einladen, wären aber auch zu viele Sänger, um dort aufzutreten.Ein so schönes Programm, das wir nun erst vortragen werden, wenn wir es richtig können.
06. April im Rahmen unserer Lesereihe Kainszeichen waren wir auf eine Besonderheit gestoßen. Andrea Camilleri wollte im Sommer 2019 seine "Selbstverteidigung des Kain" in den Terme di Caracalla vortragen. So traurig, dass er zuvor verstarb. Sein Verlag Sellerio in Palermo brachte im November 2019 diese "Autodifesa di Caino" heraus. Da wir niemanden fanden, der das Büchlein übersetzt hatte, habe ich es selber gemacht. Aber zu hören bekommt das jetzt niemand. Wir alle wissen, bei wem wir uns dafür bedanken dürfen.
17. April sollte der dritte Teil der Reihe "Die versunkene Stadt" in St. Matthäus vorgetragen werden. Diesmal wäre die abgründige Zeit zwischen 1933 bis 1950 Thema gewesen. Die Vernichtung der schönen Straßenzüge um den Matthäikirchplatz: erst durch den Germaniabaumeister Speer, dann durch Bomben und Kriegshandlungen. Aber die Stadt ist versunken.
Die Texte um die Vertreibung der Gemeinde aus ihrem Stammgebiet hatte ich zusammengesucht: Über die gezielteZerstörung des Kirchbaus und sein eventueller Wiederaufbau in Spandau. Der Kampf zwischen den deutschen Christen und der Bekennenden Kirche und noch vieles mehr. Der zweite Abend hatte bereits eine übervolle Kirche erlebt. Alle hatten wir uns auf den dritten Abend gefreut. Nun auch versunken wie die Stadt.
19. April An diesem Sonntag der gleichsam neugeborenen Kindlein, dem Taufsonntag der Kirche, hätte ich zum Abschluss über einen Text aus dem Buch des Propheten Jesaja predigen können: Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft. (Jes.40, 30f) Was für ein schöner Text, dem Virus den Marsch zu blasen. Aber abgeblasen. Kirche geschlossen.
Genauso wie vermutlich auch unser Ausflug zum
27. April eventuell in die Gemäldegalerie Braunschweig, um vor zwei Gemälden zu Kain und Abel eine Erzählung von Alfred Neumann zu lesen: Viele heißen Kain. Eine Erzählung, in der wohl ein Mord geschieht, bei dem dem Leser aber der Mut fehlt, den Mörder zu bestimmen.
Vielleicht lesen wir aber doch in Braunschweig, weil das Virus kunstfeindlich ist und keine Gemäldegalerie betritt.
Dann läsen wir auch wieder am
4. Mai im Rahmen der Kainszeichenlesungen im Haus am Lütztowplatz. Das Museum liegt justement über der Trompete, die sich durch die Verbreitung des Virus einen gewissen Namen gemacht hat. Ich bin sicher, wäre die Trompete noch das Domizil von Wolfgang Neuss - das wäre nicht passiert. Er hätte die Bewohner über ihm im Souterrain zu schützen gewußt.
So, jetzt habe ich aufgezählt, was der Scheißtyp von Virus alles versaut hat. Kulturfeindlich ist es ganz ohne jeden Zweifel. Da hätte ich erwartet, dass die Bundesregierung entsprechende Gegenmaßnahmen ergreift. Tut sie aber nicht. Sie schließt die wichtigen Einrichtungen und lässt die falschen offen. Warum wird die Gemäldegalerie geschlossen mit ihren wunderbaren Werken. Abstand von drei Metern ist das bekanntlich gar kein Problem. Für sie gibt es keinen Ersatz. Dass die Buchläden offen bleiben dürfen, wenigstens für eine Stunde am Tag, habe ich auch nicht gelesen. Einziger Kulturträger ist das Fernsehen, dieses Lagerfeuer.
Alle Kirchen geschlossen. Ja, habt Ihr sie nicht mehr alle. Wo sollen die Menschen denn hin mit ihrer Angst! Wenigstens wochentags sollten die Kirchen offen bleiben. Die Menschen wollen stillwerden können und nicht immer nur von den neuesten Nachrichten überschüttet werden.
Dann : Supermärkte offen - Feinkostläden geschlossen. Ich verstehe nicht, wie man so vor diesem kulturfeindlichen Virus zu Boden gehen kann.
Seit dem 2. Weltkrieg will man hier einen solchen Gegner nicht mehr gesehen haben. Und schon erinnert man sich an das damalige Einknicken und Zusammenbrechen und läßt geschehen, dass die Stadt erneut versinkt.
Natürlich, wenn Ihr aus Gleichgültigkeit alle Kirchen schließt, werdet Ihr auch nie erfahren, wie Widerstand und Ergebung zusammengehen.
Scheißvirus überall.
Es grüßt Euch aus der Quarantäne (Fastenzeit)
Euer Hartmut Theophil