Freie Rede für Agnes und Georg

 Rede zur Hochzeitsfeier von Agnes und Georg


Begrüßung
Liebe Agnes, lieber Georg, Leonard und Vincent,
ich heiße die Brautpaarfamilien ganz herzlich willkommen und alle Freunde des Brautpaares. Einige unter den Gästen hatten es nicht so weit. Sie sind im Vergleich zu anderen Gästen von nebenan zum Beispiel vom Engelbecken. Während andere aus Engelland angereist sind, und jemand sogar aus Los Angeles.
Mit dieser Aufzählung will ich andeuten, dass eine Hochzeit  ohne Bezug auf Engel nicht denkbar ist. Ihr habt ja auf eine Weise Eure Einladung formuliert  „Wir haben geheiratet. Vor langer  Zeit.“, als rechnetet Ihr mit Ewigkeiten.

I apologize to everybody who came here convinced that all Germans  speak English. Yes they do, but not always and not everywhere.
I’m sure you will find somebody near to you to translate the most important words of this ceremony - for example the Yes of the two in front of you. You only have to say to somebody “Stand by me!” and please translate.

Ich entschuldige mich auch bei den vielen Schweizern für das platte Deutsch, in dem ich schon wegen meiner Herkunft die Ansprache halten werde.
Ich komme nämlich aus Norddeutschland, auch als Plattdeutschland bekannt. Mein Name ist Hartmut Diekmann, ich bin evangelischer Pfarrer außer Dienst aber nicht außer Betrieb und freue mich, Agnes und Georg das Jawort entlocken zu dürfen.

Das haben sie sich zwar einander schon oft gesagt, mit unterschiedlichem Tonfall und Lautstärke, aber heute sagen sie es gleichsam vor den Engeln und für uns, vor Zeugen also. Als zeugen sagen wir heute auch ja. Wir sagen Ja zu ihrem Ja, und wenn den beiden in der Aufregung des Alltags einmal nicht mehr so deutlich ist, was sie heute gesagt haben und wie es gemeint war: Dann ist es unsere Aufgabe sie daran zu erinnern und darin zu bestärken. Denn die Ehe ist ein Gemeinschaftswerk - Ihres und unseres.


Ansprache
Liebe Agnes, lieber Georg,
Euch zieht es magisch an diesen Kanal, habt Ihr gesagt. Worin die Magie besteht, habt Ihr allerdings für Euch behalten. Vielleicht ist sie ja auch euch selbst ein Rätsel. Tatsache ist jedoch: Ihr habt Euch an diesem Landwehrkanal kennengelernt, wenn auch ein bisschen weiter oben. Auch zwischen Euren beiden Jungs und dem Kanal gab es eine Beziehung - ich kann mich nur nicht mehr genau erinnern, ob sie darin getauft worden sind oder nur hineingefallen sind. Nun habt ihr uns zu Eurer Hochzeit schon wieder an seine Ufer geladen.
Ihr gestattet, dass ich einen Deutungsversuch unternehme, ohne auf das naheliegende Engelland und den Kanal zwischen ihm, England, und uns anzuspielen.

Ich will dazu damit beginnen, wie es bei Euch angefangen hat. Eure ersten Momente bestanden in einem sofort entbrannten Streit zwischen Euch über die Frage: fließt das Wasser des Kanals (Agnes) oder steht es(Georg).
Solche umstrittenen Fragen gehören zu den Dingen, die zunächst tiefste Gräben aufreißen, sich dann aber als vollkommen harmlos erweisen: In diesem Fall kann sich jeder von uns überzeugen, dass die Wasser fließen (Agnes), wenn auch kaum merklich (fast Georg).
Ein bekannter Soziologe, Niklas Luhmann empfahl wegen solch strittiger Fragen, den Brautpaaren ein großes Brockhauslexikon zu schenken, damit man sich nicht über unwichtige Dinge zerstreitet.

Daraus soll aber niemand den Schluss ziehen, Ehepaare sollten sich überhaupt nicht streiten.
Ganz im Gegenteil, sie sollen.
Georg hat auch gleich bei diesem Gespräch eingeräumt, es ginge bei Ihnen auch weiterhin ziemlich hoch her.
Agnes meinte dagegen, sie hätte noch nie so wenig gestritten wie  in der Beziehung mit Georg.

Ich würde das so kommentieren: Es besteht überhaupt kein Grund dazu, die kulturellen Unterschiede in Europa klein zu reden. Wir haben sie, und manchmal reicht ein kleiner Kanal oder träge fließender Fluss, um das gelobte Land vom Land der Philister zu trennen.

Streit hilft jedoch, diese Abstände zu überwinden. Manchmal ist überhaupt das Handgemenge die einzig mögliche Art, sich näher zu kommen.
Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, eine Ehe ohne Streit ist öde und platt und gefährdet sich selbst.
Vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen die Musik von Heinrich Schütz im Ohr, die mit Hilfe der Offenbarung des Johannes einen Einblick in das Leben im Himmel erlaubt „Es erhob sich ein Streit im Himmel.“ Da stritten sogar die Engel, denn im Streit liegt auch etwas vom himmlischen Leben.
Denn in jedem Ja, das wir zueinander sagen, liegt ja auch immer ein Nein: eines, in dem wir uns abgrenzen gegen den anderen, gegen Zumutungen, gegen zuviel Gewissheit. Sowie es gut wäre, wenn in jedem nein auch ein Ja enthalten ist. Eine Zustimmung vom Grund her, aus einer unerschütterlichen Tiefe heraus. Wenn das so ist, dann ist Streiten wunderbar.

Ich erinnere Euch dagegen nur einen Augenblick an das erste Paar, das so oft als Modell für die Ehe herhalten muss und sich dafür so ganz und gar nicht eignet: Ich meine Adam und Eva.
Dass sie zusammenlebten, steht außer Frage, leider war das Wie so schrecklich. Mark Twain hat sich in einem Entwurf zu den Tagebüchern Adam und Evas dazu Gedanken und darüber lustig gemacht:
Sie lachten nicht und sie weinten nicht, sie wussten nicht, was ihnen besser gefiel und was ihnen unangenehm war. Den Unterschied von  zu Hause bleiben und ausgehen kannten sie nicht. Sie liefen zwar den ganzen Tag nackt herum, aber das fiel ihnen weder auf noch etwas dazu ein. Sie wussten weder, was ausziehen bedeutete noch wer anziehend ist. Darin waren sie beinahe wie wir.

Sie waren nicht neugierig und daher ohne jede Leidenschaft.
Sie hatten keine Aufgaben zu erledigen und es fehlte ihnen trotzdem nichts.
Sie waren die Vorbilder für das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens.
Hinzu kam, dass sie sich niemals stritten. Und so wussten sie auch nichts von der Liebe.

Sie lebten gar nicht wirklich, sie waren träumende Unschuld, um noch etwas Positives zu sagen, oder pränatal. Sie waren wie Kinder vor der Geburt, geradezu vor ihrer Zeugung. Ihre Ehe wird erst in dem Augenblick interessant, da sie aus dem Paradies rausgeworfen werden. Jetzt erst erkennen sie sich, jetzt erst lieben sie sich, jetzt kommen Fragen und kommt Streit auf. Ihr Alltag bekommt Farbe, sie bekommen zwei Kinder, Jungens, die wirklich nicht ganz ohne sind. Das Leben wird laut, sehr laut und umstritten.

Streit hat im Deutschen zwei gegensätzliche ursprüngliche Bedeutungen:
Starr, aufragend, fest
oder
sich bewegend, fließend,
ganz so wie die Wasser des Landwehrkanals.

Streit gibt es aber auch um uns selber. Himmel und Hölle streiten sich um uns, sagten die Alten.
Von Geburt an liegen wir im Streit um das Leben, kämpfen wir. Ihr musstet um das ungesicherte Leben eures ersten Sohnes Leonard kämpfen, der so früh kam, dass er nicht schwerer als ein Vögelchen war und es lange Zeit so aussah, als wollte er Euch davonfliegen.

Da habt ihr lange mit vielen anderen um sein Leben gestritten und die schönste Erfahrung gemacht, die man machen kann: Wenn ein solcher Streit um ein Leben gut ausgeht. Das macht Mut für kommenden Streit. Das kann auch helfen zu glauben, dass diese Welt nicht tragisch ist. Sie ist nicht so eingerichtet, dass die Dinge schlecht ausgehen, dass sie scheitern müssen. Sie können scheitern, aber sie müssen nicht.

Es lohnt sich anzustrengen gerade in den Momenten, die am meisten ratlos machen: Wenn VW Georg zum Beispiel zur Einrichtung einer Produktionsstätte auf die Galapagos Inseln schicken sollte, während Agnes gleichzeitig Proben und Premiere hat. Was machen dann Leonard und Vincent.
Bestimmt seht ihr dann so alt auf wie auf dem Einladungsphoto zu Eurer Hochzeit, auf dem Georg eine italienische Zeitung hält mit einer Überschrift, die aussieht wie tempi rapidi - schnelle Zeiten oder Zeiten schneller Entscheidungen.
Das wäre dann kein schlecht gewählter Titel.
Man muss rangehen.
Irgendwie geht es immer wieder darum, auf die andere Seite des Kanals zu kommen, das neue Ufer zu erreichen.
Vielleicht zieht Euch deshalb der Landwehrkanal so sehr an,
auch weil er nicht so breit ist.
Was ich für ein untrügliches Zeichen Eures Optimismus verstehen würde. Die Aufgabe ist da - aber sie ist zu schaffen.

Mark Twain hatte diesen Schluss seiner Tagebücher gefunden, indem er Adam zu Eva sagen lässt: Wo du warst, da war das Paradies. Und wer wollte da bestreiten, dass Mark Twain mit seinem Ausspruch eine Anspielung auf Engelhaftes im Sinn hatte.
Dass Ihr das zueinander sagen könnt, wünschen wir Euch alle.

Über teofilo.de

Theophil war der Vorname meines Vaters. Mein Vater wurde ein paar Monate vor meiner Geburt aus Russland als vermisst gemeldet. Durch meinen langen Aufenthalt in Italien hat sich der Name Theophil um ein erstes "h" und sein "ph", das zu "f" geronnen ist, verschlankt. Ich selber nicht.

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